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Anna Mendel "WIR"

"Schublade im Kopf aufmachen, raus holen, bämm, alles ist sofort wieder präsent. Erinnerungen von letzter Woche sind ähnlich lebendig wie die von vor 
2 Jahrzehnten."

Wie gehts dir? 

Gar nicht mal so gut (lach). Ich bin in einem Zustand der Dauererschöpfung, die nicht nur durch Carearbeit, sondern durch die Kombination Erwerb und Care kommt. Ich hatte mir das immer gewünscht, mal von was anderem als Care erschöpft zu sein. Aber irgendwie ist das auch nicht so doll. Ich kann nicht abschalten und so ist mein Hirn zu jedem wachen und auch schlafendem Moment mit Planung, Terminen und „haben wir noch Brot?“ beschäftigt. Dass es beruflich ganz gut läuft und ich gerade dabei bin, was Gutes mit meinem Namen drauf aufzubauen, ist allerdings ganz schön.

 

Wie sieht ein ganz durchschnittlicher Tag bei euch aus? 

Er findet drinnen statt. Mein Mann und ich versuchen mit unseren vier Händen so viel wie möglich zusammen zu halten, alle zu versorgen, allen gerecht zu werden, alle satt zu bekommen und sind froh, wenn dann Abend ist. An einem durchschnittlichen Tag versuchen wir die Zeit irgendwie zu unserem Freund zu machen und nicht unterzugehen: in Wäsche, in Resignation, in schmutzigem Geschirr, in all dem Lärm, den 5 Personen auf einem Haufen machen.

 

In einem Satz, was ist soo typisch für Eure Familie?

Wir sprechen sehr wertschätzend miteinander. Sprache und Kommunikation sind key für uns. Menschen sind verwirrt, wenn ich meine 2-Jährige und meinen Mann mit demselben höflichen Satz bitte, den Teller zum Tisch mit zu nehmen. Klar schreien wir auch mal, dass wir genervt sind und jetzt bitte alle mal ruhig sein sollen. Aber das eine schließt ja das andere nicht aus. Und irgendwie ist es auch interessant, wenn man bedenkt, dass keins unserer Kinder im Normbereich spricht bzw. kommuniziert.

 

Was bedeutet Erinnern für dich?

Schublade im Kopf aufmachen, raus holen, bämm, alles ist sofort wieder präsent. Erinnerungen von letzter Woche sind ähnlcih lebendig wie die von vor 2 Jahrzehnten. Vor allem die Gefühle, aber auch Gerüche, Tiefenwahrnehmung oder Bewegungen. Manchmal versuchen Menschen mich zu gaslighten und mir einzureden, dass meine Erinnerungen so nicht richtig sind. Ich habe aber gelernt, meinen Gefühlen zu vertrauen. Hat auch nur 40 Jahre gedauert.


Gibt es einen Moment mit deiner Familie, den du nie vergessen wirst? Und gibt es davon auch Bilder?

Ja, in meinem Buch beschreibe ich diesen Moment sogar. Wir vier, also wir Eltern und die Jungs und im Bauch Baby Maya sitzen in der offenen Kofferraum unseres Buses. Wir stehen auf dem Parkplatz einer Mitmach-Ausstellung auf Rügen und teilen uns Brötchen, Würste und Apfelschnitze. Der Regen prasselt auf das Dach. Von diesem Moment habe ich ein Foto gemacht, ein schnelles Selfie, war ja Urlaub, da macht man ein paar mehr Fotos. Es war ein bisschen wie bei diesem Reeltyp „Post a memory which you didn’t know would become a core memory.“ Ein paar Wochen später würde ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Antidepressivum nehmen. Dieses Bild ist auch eine Erinnerung, dass ich diesen Sommer überlebt habe und der Depression nicht nachgegeben habe.

 

Hat sich dein Erinnern verändert, seitdem du Kinder hast?

Nein, mein Erinnern war schon immer intensiv und sehr raumeinnehmend und recht nah unter der Oberfläche und das hat sich mit den Kindern nicht verändert. 

 

Welche Bedeutung haben die Bilder, die wir zusammen gemacht haben?

Punkt 1: Ganz banal war es ein sehr schöner Vormittag. Was für uns aber viel wichtiger war, war dass unsere Kinder eine ihr fremde Person in unserer Mitte, im wahrsten Sinne des Wortes akzeptiert haben. Vor allem um Simon machte ich mir im Vorfeld Sorgen. Als zuletzt ein Kamerateam in unserem Haus war, ging es ihm gar nicht gut.

 

Punkt 2: Wie sehr kann man die sehr unterschiedlichen und sehr ausgeprägten Persönlichkeiten unserer Kinder und das warme Miteinander in unserem Haus auf Bilder bringen? Natalie: Ja.

 

Wenn du 2-3 Bilder aus unserem Shoot auswählen müsstest, die euch am besten beschreiben, welche würdest du wählen? 

#26 Simon in seinem Hängesessel. Ein Safe Space, den er braucht und einfordert.

#60 David und ich lachen viel zusammen, auch wenn unser Leben nicht immer danach aussieht. So bleiben wir uns nah, wenn es von allen Seiten an uns zerrt.

#68 Lukas, der Liebevolle. Wir wissen, dass in all seiner Wildheit auch immer die Suche nach Nähe mit spielt. Das ist wichtig, wir dürfen uns nicht von zerstreuten Puzzles und verschüttetem O-Saft blenden lassen.

#77 Maya, die Intensive. Maya kann mit einem Zucken ihrer Nase, mit einem Blick,  mit einem Verziehen ihres Mundes so viel mehr sagen als es die paar Wörter, die sie mittlerweile spricht, je könnten.


Hast du auch Bilder, die von schwierigen Zeiten in eurer Familie berichten? 

Wann immer jemand von uns im Krankenhaus ist, schicken wir Eltern uns gegenseitig Bilder. Unsere Handys packen die oft in so Erinnerungs-Alben und wenn dann Herbst und Winter 2017 dran sind, klicke ich schnell weiter. Die Erinnerungen an diese Zeit sind schrecklich und die Zeit heilt nicht alle Wunden, lasst euch da nix erzählen. Immerhin bin ich nach 5,5 Jahren endlich so weit nicht mehr bei jedem Rettungswagen mit Sirene in Tränen auszubrechen. Ist doch schon mal was, oder?

 

Hat dein Buch "WIR" auch etwas mit Erinnern zu tun?

Es ist eine einzige Erinnerung. In den Strom an Erinnerungen hinein gefasst, einige Stücke herausgezogen und schön angerichtet. 

 

Findest du es gibt ein positiven medialen Blick auf Pflege und pflegende Eltern?

Der Blick ist ganz oft ganz mitleidig gewählt. Selbst wenn die Erzählungen einfach nur neutral sind, wird durch Kommentare und Schnitt oder Interviewführung ganz viel beeinflusst.

Ich wünsche mir neutralere und breiter gefächerte Berichterstattung. Aus 50 Interviews ergibt sich ein komplexeres Bild als durch 5. 

Machst du Selbstporträts? Und wenn ja, warum?

Ja. Als ich nach Mayas Geburt eine Konfektionsgröße mehr hatte und endgültig nicht mehr in die Skinny Jeans aus den 2010er Jahren gepasst habe, habe ich meine Garderobe mit Hilfe einer größeren Geldsumme aus einem Erbe erneuert. Einmal vollständig, mit fast ausschließlich bunten Klamotten. Ich hatte mich in den letzten Jahren optisch ein bisschen verloren, war nicht mehr so farbenfroh in der Kleiderwahl. Endlich konnte ich das ändern. Aber in meinem Kopf passten viel Farben nicht zusammen, ich hatte gelernt, dass sich viele Farben „beißen“. Also fotografierte ich jeden Tag meine Outfits, um zu sehen, was zusammen passen könnte. Turns out: ich kann alles in allen Kombinationen tragen, weil ich nichts mehr darauf gebe, wie man sich angeblich kleiden soll. Das war unheimlich befreiend. Die Fotos mache ich immer noch, weil sie mir im Rückblick auch immer ein bisschen Tagebuch meiner täglichen Verfassung sind.